Sich selbst eine gute Freundin sein

Selbstmitgefühl bedeutet schlicht und einfach, sich selbst eine gute Freundin zu sein. Selbstmitgefühl ist kein höherer Zustand, den wir erst nach 10 000 Stunden auf dem Sitzkissen und in Dinkelsocken erreichen .

Ab sofort können Sie mit sich selbst so umgehen wie mit einer guten Freundin – Ihre Entscheidung.

Einer Freundin geht es schlecht. Häufig sagen wir einem ersten Impuls folgend:

  • Das tut mir leid.

Anschließend fragen wir:

  • Was brauchst du denn jetzt? Kann ich irgendetwas für dich tun?
  • Wir vermitteln der Freundin, dass wir für sie da sind.

Leider behandeln viele von uns sich selbst in schwierigen Zeiten nicht annähernd so mitfühlend.

Wir reagieren schnell mit Selbstkritik oder wir wechseln in den Problemlösungsmodus – werden also (über-)aktiv. Manchmal drehen wir einfach durch.

Wie klingt ihr Selbstdialog, wenn Ihnen ein kleines Missgeschick passiert? Z.B. Sie verschütten Kaffee auf die weiße Bluse und haben gleich ein Meeting. Hand aufs Herz – gehen Sie mit sich selbst mitfühlend um oder beschimpfen Sie sich eher: Wie dumm kann man sich anstellen!

Ein erster Schritt auf dem Weg zu mehr Selbstmitgefühl besteht darin, wahrzunehmen, wie wir uns selbst behandeln, wenn es uns nicht so gut geht.

Und wie behandeln wir eine gute Freundin in einer vergleichbaren Situation?

Was hat das jetzt mit unterdrückter Wut zu tun?

Ein Teil der Antwort ist der Neurobiologie zu finden.

Wenn wir mit den Härten des Lebens konfrontiert sind, fühlen wir uns sehr schnell bedroht. Bei Bedrohung springt die Amygdala an. Unser Organismus wird von den Stresshormonen Adrenalin und Cortisol überschwemmt. Wir sind bereit, zu kämpfen, zu fliehen oder notfalls auch zu erstarren.

Bei körperlichen Bedrohungen wie einem knurrenden Hund ist Kampf oder Flucht eine richtig gute Reaktion.

Was, wenn die Bedrohung von unseren Gedanken herrührt: „Wie dumm kann ich sein. Ich bin eine Versagerin. Ich stelle mich blöd an. …“

Mit diesen inneren Gedanken-Sätzen bedrohen wir unser Selbstbild. Die Gefahr kommt von innen. Wir sind zugleich Angreiferin und Angegriffene. Stresshormone werden ausgeschüttet und wir sind im Kampf-, Flucht- oder Totstellmodus.

Ein Weg raus aus dieser inneren Bedrohung unseres Selbstbildes ist achtsames Selbst-Mitgefühl. Wir behandeln uns selbst wie eine liebe Freundin. Wir liebevoll und verständnisvoll mit uns um. Oxytocin wird ausgeschüttet – umgangssprachlich auch Kuschelhormon genannt.

Frauen und Selbstmitgefühl

Es ist ein Paradoxon: Frauen werden zu Fürsorglichkeit und Warmherzigkeit erzogen und müssten demnach mehr Mitgefühl mit sich selbst haben als Männer. Oder?

Die Forschung zeigt das genaue Gegenteil: Frauen haben weniger Selbstmitgefühl als Männer.

Wenn ein Mann klar und entschieden für sich eintritt, dann ist das eben ein richtiger Kerl. Er darf auch gerne mal lauter werden oder mit der Faust auf den Tisch schlagen. Tut das eine Frau, wird sie schnell als dominante Zicke bezeichnet oder wird auch gerne schnell mit ihren Ansichten lächerlich gemacht.

Genau diese Angst vor negativer Beurteilung bei gleichzeitigem Wunsch nach sozialer Anerkennung führt dazu, dass so manche Frau ihre kraftvolle Seite unterdrückt. Doch die kraftvolle Seite der meistberechtigten Wut löst sich nicht in Wohlgefallen auf.

Wut wird in Selbstkritik verwandelt. Wir machen uns selbst nieder, bevor ein anderer uns kritisiert.

In dieser höheren Neigung zur Selbstkritik, liegt ein Grund für weniger Selbstmitgefühl bei uns Frauen.

In einer Untersuchung wurden 1400 Erwachsene bezüglich ihres Selbstmitgefühls getestet[1]: „Unter Frauen waren 86 Prozent signifikant mitfühlender mit anderen als mit sich selbst, 5 Prozent hatten mehr Mitgefühl mit sich selbst als mit anderen und 9 Prozent waren genauso mitfühlend mit sich wie mit anderen.“

Und jetzt meine Empfehlungen für mehr Selbstmitgefühl:

  1. Beobachten Sie Ihre erste automatische Reaktion auf eine kleine oder größere Bedrohung.
  2. Nehmen Sie Ihre erste selbstkritischen Aussagen liebevoll an. Annehmen ist ein wichtiger Schritt zur Veränderung.
  3. Transformieren Sie die Selbstkritik in verständnisvolle Aussagen, so wie mit einer guten Freundin.

Es gibt keinen Schalter im Gehirn für mehr Selbstmitgefühl. Lassen Sie sich jedoch auf den Lernprozess ein, mehr Selbstmitgefühl entwickeln, bereichert das Ihr Leben ungemein.

 

[1] E. Pommier, K. D. Neff und I. Toth-Kiraly, »The Development and Validation of the Compassion Scale«, Assessment 27, Nr. 1 (2019), S. 21–39.