Ein Plädoyer für weibliche Wut

Kürzlich erzählte eine Krankenpflegerin von ihrem Problem, in Auseinandersetzungen mit dem Oberarzt häufig weinen zu müssen. Sie schämt sich dafür und sie weiß, dass sie sich mit ihren Tränen kleinmacht. Sie will das ändern – spannendes Thema.

Sofort war klar, dass diese Träne keine Trauer ausdrücken, sondern Wut – ungelebte Wut.

Viele Frauen bemerken: „Wenn ich an meine eigenen Wutmomente zurückdenke, stelle ich fest, dass auch ich meist eher traurig als wütend war. Dass mein loderndes Feuer in Wuttränen erlosch.“[1]

Ich selbst kenne dieses Phänomen auch, lieber in die einsame Trauer – lieber mich selbst anklagen – lieber mich selbst klein machen als mit einem deutlichen Machtwort nach außen. Ich könnte dann nicht mehr gemocht werden .

„Es ist paradox, dass das unglaublich kraftvolle Gefühl der Wut bei uns Frauen ausgerechnet Ohnmachtsgefühle auslöst, nur weil man uns nicht gestattet, die Wut als Teil unseres Selbst anzuerkennen.“ [2]

Nette Frauen werden nicht wütend

  • Wut ist ein kraftvoller Ausdruck von Energie. Eine Energie, die wir zur Gestaltung eines guten Lebens unbedingt brauchen.
  • Wut ist ein starkes Signal für eine drohende Gefahr. Sie motiviert uns, gegen die Gefahr gerüstet zu sein: Flucht, Kampf oder Erstarren.

Haben wir Frauen das Gefühl Wut in unserem Repertoire?

Ich würde sagen, nicht im gleichen Ausmaß wie unsere männlichen Geschlechtsgenossen.

Mädchen werden immer noch von ihren Eltern, ihren Erzieher*innen öfter ermutigt, ihre sanften Seiten zu zeigen – freundlich, nett, hilfsbereit, kooperativ … zu sein.

Gleichzeitig werden sie eher getadelt, wenn sie mal laut werden, mit dem Fuß auf den Boden stampfen …

Einem weinenden Mädchen wird tendenziell eher Traurigkeit unterstellt, einem weinenden Jungen eher Wut – ist doch interessant.

Bitte überprüfen Sie diese Aussage selbst.

Für eine Studie wurden 535 Frauen über ihre Erfahrungen mit Wut befragt. [3]

„Es stellte sich heraus, dass viele Teilnehmerinnen mit ihrer Wut überhaupt nicht in Kontakt waren oder sich zutiefst unwohl mit ihr fühlten.“

Eine Frau drückte es so aus: »Ich glaube, ich bin so sozialisiert worden, dass ich nicht anerkennen kann, dass Wut ein wertvolles menschliches Gefühl ist.“[4]

Kommen wir zurück zu unserer Pflegekraft. Sie musste sich eingestehen, dass sie vor ihrer eigenen Wut, dass der Oberarzt nicht zuhört und erst recht nicht ihre Meinung in die Behandlung mit einbezieht, Angst hat.

Diese Angst lähmt sie in ihrer Kommunikation, denn unter Tränen bringt sie kein Wort mehr heraus.

Schritt für Schritt haben wir diese Zusammenhänge in der Supervision aufgedröselt.

Ein erster Handlungsschritt für sie:

Sich selbst achtsamer im Gespräch zu spüren – zu spüren, wann Wut hochkommt – wo die Wut im Körper zu spüren ist.

Je früher sie ihren Ärger, ihre Wut spürt, um so besser kann sie damit umgehen. Sie wird dann nicht mehr von einem Gefühls-Chaos überrollt und nur noch Wuttränen weinen.

Für den Fall, dass doch Wuttränen kommen, in Abstand gehen und sei es, dass sie dringend auf die Toilette muss. Das verschafft ihr Abstand und Beruhigung (Notfallplan).

Ein zweiter Handlungsschritt für sie:

Immer wieder in einer ruhigen Minute untersuchen, sind es Wuttränen oder Trauertränen. Sie soll diese beiden Gefühle unterscheiden lernen.

Ein dritter Handlungsschritt für sie:

Mit Kolleg*innen in den Austausch gehen. Ihre eigene Fachmeinung hinterfragen und notfalls korrigieren. So oder so mit dem Oberarzt in einer ruhigen Minute ins Gespräch gehen und über diese Angelegenheit sprechen.

Wichtiger Hinweis:

Wut und Aggression ist nicht das Gleiche. Diese beiden Wörter dürfen nicht synonym verwendet werden. Möglicherweise ist das ein Grund für die Behauptung:

„Wut ist etwas Schlechtes “.

Natürlich gibt es die destruktive Wut und diese Wut ist nicht hilfreich.

Destruktive Wut wird persönlich, sie beschuldigt und wertet ab: Die anderen sind die Bösen. Diese Wutenergie ist feindselig und aggressiv. Oft geht es auch um Rache und Zerstörung.

Die guten Seiten der Wut

  • Konstruktive Wut ist der Anfangspunkt eines Prozesses: Für sich selbst einstehen und die eigenen Rechte einfordern, ohne feindselig oder aggressiv zu werden.
  • Konstruktive Wut legt den Fokus auf das Falsche, ohne den Übeltäter anzugreifen. Es geht vielmehr darum, zu verstehen, was hat zu dem Falschen geführt.
  • Konstruktive Wut denkt nach, welche Auswirkungen sie auf andere hat. Sie will Leid kleiner macht und dramatisiert nicht.
  • Konstruktive Wut erhält uns am Leben und ist sehr gesund.
  • Konstruktive Wut kann eine Macht des Guten darstellen.

Was sagt die Wissenschaft zu Wut?

Es gibt drei dominierende Entstehungstheorien für unsere Wut:

  • Triebtheorie (Sigmund Freud): Wir Menschen haben einen angeborenen Aggressionstrieb. Lediglich gesellschaftliche Normen verhindern ein blindes Ausagieren von Wut. Gleichzeitig sagt die Triebtheorie, ungelebte Wut macht psychisch krank. Hier wird Wut und Aggression synonym benutzt.
  • Frustrations-Aggressions-Theorie: Wut ist eine sekundäre Emotion. Wut entsteht als Reaktion auf eine Situation oder Verhalten, die ungerecht oder unfair erlebt wird. Wut ist also eine Abreaktion. Wieder wird Wut und Aggression synonym verwendet.
  • Lerntheorie von Albert Bandura: Wir erleben einen negativen Reiz und unser limbisches System aktiviert Flucht, Kampf oder Erstarrung. Je häufiger wir dem gleichen negativen Reiz ausgesetzt sind und der Kampfmodus erfolgreich funktioniert, um so stärker etabliert sich dieser Prozess in uns:
Negativer Reiz – Wut – Problem gelöst.

Für Bandura ist Wut ein erlerntes Verhalten. Wir lernen es auch von unseren Vorbildern.

Dieser kurze wissenschaftliche Exkurs zeigt, Wut ist eine komplexe Angelegenheit – vor allem der Umgang mit Wut.

In vielen Kulturen wird Wut negativ bewertet und ist gesellschaftlich nicht sonderlich akzeptiert, besonders bei Frauen.

Meine Frage an Sie: Wie sieht es mit Ihrer Wut aus?

1 Neff, Kristin. Kraftvolles Selbstmitgefühl für Frauen: Klar für sich selbst einstehen, engagiert handeln und Erfüllung finden (German Edition) (S.442). Kailash. Kindle-Version.

[2] Neff, Kristin. Kraftvolles Selbstmitgefühl für Frauen: Klar für sich selbst einstehen, engagiert handeln und Erfüllung finden (German Edition) (S.92). Kailash. Kindle-Version.

[3] S. P. Thomas, »Women’s Anger: Causes, Manifestations und Correlates«, in C. D. Spielberger and I. G. Sarason (Hrsg.), Stress and Emotion, Bd. 15, Washington 1995, S. 53–74.

[4] S. P. Thomas, »Women’s Anger: Causes, Manifestations und Correlates«, in C. D. Spielberger and I. G. Sarason (Hrsg.), Stress and Emotion, Bd. 15, Washington 1995, S. 53–74.